Merkmale einer Kurzgeschichte

Versuch einer Definition

»Patsch!«, rief Edmund, als wieder ein fettes Insekt auf der Windschutzscheibe zerplatzte. Der Scheibenwischer schmierte einen besonders unschönen Streifen über das Glas, und aus den Wischwasserdüsen sprudelten nur noch kleine Bläschen. Edmund fluchte. Nach nunmehr dreihundertfünfzig Autobahnkilometern wurde ihm die ganze Sache jetzt eigentlich zu undurchsichtig, doch er war spät dran.

So beginnt „Melanies Rat“ von Peter Coon. Keine Umschweife, keine langen Erklärungen – man wird hineingeworfen in eine rasante Situation. Und dies ist auch schon ein erstes Merkmal einer Kurzgeschichte: der abrupte Einstieg.

Merkmale einer Kurzgeschichte? Warum so kompliziert? Ist eine Kurzgeschichte nicht einfach nur eine kurze Geschichte? Nein, nicht einfach so. Obwohl: wer will das bestimmen? Ist irgendwo verbindlich festgelegt, was eine Short Story ist? Und ist eine Kurzgeschichte überhaupt dasselbe wie eine Short Story?

Was ist jetzt mit den Merkmalen?

Folgende Merkmale werden häufig genannt:

  • kurz
  • keine oder kaum eine Einleitung (der o.g. abrupte Einstieg)
  • offenes Ende
  • kurzer Handlungszeitraum
  • nur wenige handelnde Personen
  • Personen und Orte werden kaum beschrieben
  • geschildert wird ein Konflikt
  • (überraschender) Wendepunkt
  • erzählt im Präteritum (einfache Vergangenheit; Imperfekt)
  • personaler Erzähler (also nicht allwissend)

Für jeden dieser Punkte lassen sich natürlich Gegenbeispiele finden. Die letzten beiden scheinen mir zudem an den Haaren herbeigezogen, vielleicht sind sie aber ein Erfahrungswert aus frühen Zeiten des Genres, als sich Germanisten zum ersten Mal Gedanken darüber gemacht haben. Überhaupt findet man in Lehrtexten für Schülerinnen und Schüler, die über die Merkmale von Kurzgeschichten aufklären sollen, sehr häufig die Worte „meistens“, „selten“, „oftmals“, ... So kann man die genannten Eigenschaften zwar grundsätzlich wie eine Checkliste abarbeiten, und sie helfen auch sicher, die Gattung „Kurzgeschichte“ als solche zu erkennen (sehr wichtig in der Schule), die „Reinform“ einer Kurzgeschichte wird man aber vermutlich nur selten antreffen.

Apropos: zum ersten Mal

Entstanden ist die Gattung der Short Story in den USA des 19. Jahrhunderts. Damals veröffentlichten viele namhafte Autoren (Edgar Allan Poe, Ernest Hemingway, ...) kurze Geschichten in Zeitschriften. Kurz waren sie nicht nur, damit sie in einem Rutsch gelesen werden konnten. Insbesondere auf Ernest Hemingway geht der lakonische (knappe) Sprachstil und das Eisberg-Modell zurück, nach dem eine Geschichte besonders von den ungesagten Dingen profitiert, die erst im Kopf der Lesenden entstehen.
Erst im 20. Jahrhundert gelangte die Short Story nach Deutschland und wurde dort als Kurzgeschichte bezeichnet. Insbesondere kurz nach dem zweiten Weltkrieg erlebte sie eine Blütezeit (Wolfgang Borchert, Heinrich Böll, ...). Wer weiß, wie dieser Begriff damals konkret definiert wurde?

Definiere „Kurzgeschichte“

Klare Definitionen scheinen mir sehr spärlich. Definiert wird die Kurzgeschichte meist über ihre Merkmale, die, wie oben angedeutet, nicht zuverlässig zu finden sind. Mit meiner eigenen „Definition“ lehne ich mich somit weit aus dem Fenster:
Für mich ist eine Kurzgeschichte in der Tat eine kurze Geschichte, kurz aber nicht, was die Anzahl der Wörter angeht, kurz eher im Sinne von kurz und knapp. Es ist der Sprachstil, der das Attribut „kurz“ verdient. Wie oben bereits angedeutet: auf alles, was irgendwie überflüssig ist, wird verzichtet, die Handlung wird aufs Wesentliche beschränkt, alles Ungesagte ensteht beim Lesen im Kopf. Und hierin liegt auch der besondere Reiz dieser Literatur-Form: Fantasie ist gefragt, das zwischen-den-Zeilen-Lesen und ein aktives Erschließen oder sogar Mitgestalten der Geschichte (im eigenen Kopf).

Eine Kurzgeschichte verhält sich nicht selten wie ein großes Rätsel.

 

→ Nächster Abschnitt: Warum Kurzgeschichten?


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