Die Kurzgeschichte lebt von der Kürze, der inhaltlichen Sparsamkeit, der lakonischen Sprache und somit von der Verdichtung, der Ver-Dichtung. Damit steht sie der Lyrik schon erstaunlich nahe. Zählt bei der Kurzgeschichte jeder einzelne Satz und jedes einzelne Wort, so ist es beim Gedicht nahezu jeder einzelne Buchstabe. Ein paar Worte reichen in einem Gedicht, um eine Flut an Gedanken und Gefühlen auszulösen. Gedichte sind die Königsdisziplin der Verdichtung, an Knappheit sind sie nicht zu überbieten. Doch da auch die Kurzgeschichte extrem mit der Vermeidung von Überflüssigem ringt, zähle ich auch sie zur Dichtung, zur prosaischen Dichtung.
Als professioneller Programmierer weiß ich, was es bedeutet, einem Computer mitzuteilen, was man von ihm will. Es gilt vor allem, den Überblick zu behalten und für ein Problem die direkteste Lösung zu finden. Natürlich geht das auch mit grauenhaftem Spaghetti-Code, doch sollte man diesen tunlichst vermeiden. Stattdessen bieten gerade moderne Programmiersprachen eine Fülle an strukturierenden Methoden, um auch komplizierte Programme lesbar und verstehbar zu halten. Jeder, der schon einmal einen Bug gesucht hat, einen Programmierfehler, der wird mir zustimmen: Nur ein kurzes Programm (im Sinne inhaltlicher Knappheit) ist ein gutes Programm.
Und damit sind wir wieder beim Dichten angekommen, und bei der Kurzgeschichte. Autoren und Autorinnen werden sich bemühen, mit möglichst wenig Worten die Leserschaft sicher ans Ziel zu bringen, dorthin, wo sie sie haben wollen. Nichts anderes machen Programmierer. Sie erstellen einen Algorithmus und legen damit eine klare Spur für den Computer, an der entlang er zum Ziel kommen soll – je direkter, desto besser. Je länger dieser Weg ist, je mehr überflüssige Dinge der Rechner dabei abarbeiten muss, desto später und unsicherer erreicht er das vorgegebene Ziel. Unnötiger Code kostet nicht nur Rechenzeit, sondern – und das ist heutzutage viel wichtiger – auch Absturz- und damit Betriebssicherheit. Wenn der Computer zu verworren angeleitet wird, steigt er aus. Dasselbe wird auch jeder/jede Lesende einer langatmigen Kurzgeschichte tun.
Für mich sind gute Programmierer wie die Schreiber guter Kurzgeschichten – nämlich Dichter. Die Tugenden des Einen sind auch die Tugenden des Anderen. Woran der Eine scheitert, ist auch die Falle für den Anderen. Haben sie auch völlig andere Aufgaben: beide verrichten dabei grundsätzlich dieselben Arbeiten.
Nur bezahlt werden sie meist völlig unterschiedlich ;-)